Beobachtete Unterrichtspraktiken und Praktiken der Unterrichtsbeobachtung
Historische Videoaufzeichnungen von Unterricht als Quelle der Bildungsforschung.
Im Zuge des bereits seit Jahren anhaltenden Trends der Videographie von Unterricht in Kontexten der Unterrichtsforschung und Lehrerbildung wird oftmals übersehen, dass diese Praxis nicht nur in der Bundesrepublik an Pädagogischen Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Institutionen vor allem in den 1960er und 1970er Jahren bereits eine erste Konjunktur erlebte. In einer Reihe von Forschungsprojekten an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Wien wurden inzwischen über 200 solcher Aufzeichnungen digitalisiert und in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Online-Datenbanken der Wissenschaft zugänglich gemacht. In ihrem Vortrag wird May Jehle eine Auswahl von Aufzeichnungen aus Fächern politischen Unterrichts in Ost-, West- und Gesamtberlin als relativ neue und bisher weitestgehend unerschlossene Quelle einer historischen und vergleichenden Unterrichtsforschung vorstellen.
Anhand ausgewählter Beispiele soll zunächst diskutiert werden, welche Einblicke in die Praxis und Praktiken des Unterrichts diese einer bisher vor allem auf schriftliche Dokumente angewiesenen historischen Unterrichtsforschung ermöglichen. Unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Kontexte dieser Unterrichtsmitschnitte sollen insbesondere Techniken der Gesprächsführung und des Medieneinsatzes in den Blick genommen werden. Nicht zuletzt kann anhand dieser Beispiele auch gezeigt werden, dass diese dokumentarischen Aufzeichnungen als Quelle nicht nur Aufschluss über – in diesem Fall – spezifische Unterrichtspraktiken geben, sondern die Praktiken der Aufzeichnungen selbst ebenso der Aufmerksamkeit bedürfen, da diese zu spezifischen Inszenierungen des dokumentierten Geschehens beitragen. Der Unterscheidung einer hermeneutisch-wissenssoziologischen Videoanalyse von „gezeigten Handlungen“ und „Handlungen des Zeigens“ folgend soll damit schließlich anhand von Beispielen gezeigt werden, wie auf der visuellen Ebene erzeugte Deutungsrahmen herausgearbeitet und der Interpretation zugänglich gemacht werden können.
May Jehle, M. A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt schulische Politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildungswissenschaft an der Universität Wien war sie von 2011 bis 2015 für die Durchführung verschiedener Forschungsprojekte verantwortlich, die den Aufbau und die Weiterentwicklung der Online-Datenbanken mit den historischen Unterrichtsaufzeichnungen in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung begleiteten. In ihrem Dissertationsvorhaben führt sie auf der Grundlage dieser Bestände kontrastive Fallstudien zum Staatsbürgerkunde- und Politikunterricht in der DDR und der Bundesrepublik durch.