Die vergessene Mitte Europas

Schulbuchanalysen zur Ukraine und ihren Nachbarn

Die Legitimation der am 24.02.2022 begonnenen Invasion Russlands in der Ukraine durch ein staatlich sanktioniertes historisches Narrativ, machte erneut den Bedarf der kritischen Schulbuchforschung für politische Auseinandersetzungen sowie für die schulische und universitäre Bildung deutlich. Eine aus vier ukrainischen Wissenschaftler*innen bestehende Arbeitsgruppe plante die Untersuchung von Schulbuchdarstellungen der Fächer Geographie, Geschichte und politische Bildung und der darin enthaltenen Geschichtsbilder und historischen Narrative zum östlichen Europa. Ausgehend von der Sichtung der Inhalte aktueller ukrainischer, belarussischer, russischer und deutscher Schulbuchinhalte zur Geschichte der Region im Allgemeinen sowie der ukrainischen Geschichte im Besonderen, analysierte die Gruppe die Entwicklung dieser Narrative seit den 1990er Jahren. Neben den Erzählungen selbst, nahm sie dabei die geschichtspolitischen Strategien in den Blick, die möglicherweise eine legitimatorische Funktion erfüllen, der nationalen Selbstvergewisserung dienen, fraglos vorausgesetzte „Wahrheiten“ transportieren oder darauf angelegt sein können zu kritischem Denken anzuregen und Schüler*innen zur Positionierung im Kontext konkurrierender Erzählungen der Vergangenheit anzuregen.

  • Ziele

    Zielstellung der Arbeitsgruppe war es dabei, gemeinsame und konfligierende Narrative der Vergangenheit sowie sich im Kontext politischer Verschiebungen verändernde Erzählungen zur Geschichte der ukrainischen Nation – darunter des ukrainisch-litauischen Fürstentums, der Rolle der Ukraine in der Adelsrepublik Polen-Litauen und im Habsburgerreich, der Gewalterfahrung im 20. Jahrhundert und der Entstehung und des Zerfalls der Sowjetunion – sowie der europäischen Neuordnung seit 1990 in den drei benachbarten Bildungssystemen und Deutschland differenziert zu kontrastieren. Das Genre Schulbuch ist von besonderem Interesse für die Analyse gesellschaftlicher Umbrüche, da dieses Medium nicht nur Bildungsinstrument, sondern auch Dokument politischer Doktrin und historischer Legitimationsstrategien sein kann. Das Zusammenspiel bzw. die Dissonanzen zwischen historischen Narrativen politischer Führungspersönlichkeiten, historischer Fachpublikationen und Schulbüchern stand daher im Zentrum der Forschung dieser Arbeitsgruppe.

    Der Schwerpunkt der Studie lag damit auf der Identifizierung und Gegenüberstellung der Narrative über die Geschichte einer Region, in der aktuell ein von Russland geführter Angriffskrieg in signifikanter Weise mit historischen Entwicklungen und aus der Geschichte abgeleiteten Ansprüchen legitimiert wird. Ein kursorischer Blick in aktuelle russische Schulbücher zeigt dabei, dass diese Legitimation bereits seit einigen Jahren in den Bildungsmedien vorbereitet wurde. Hier ließ sich also die These prüfen, Schulbücher seien Seismographen gesellschaftlicher oder politischer Veränderungen und Krisen.


  • Vorgehensweise

    Die Untersuchung erfolgte anhand folgender Leitfragen:

    • Wie wird die Geschichte der Ukraine aus verschiedenen Perspektiven (nicht) erzählt? Welche historischen Akteure und Ereignisse rücken ins Zentrum der Geschichtserzählung über die Region und wie werden transnationale Zusammenhänge oder Verflechtungen gedeutet? Welche Herausforderungen leiten die Schulbücher aus der Vergangenheit für die Gegenwart ab?
    • Welche Fehlstellen, Stereotype und Verzerrungen lassen sich in den Schulbüchern dabei ggf. identifizieren? Inwieweit lassen diese sich zu politischen Interessenlagen und Narrativen zurückverfolgen?

    Quellengrundlage der Schulbuchanalysen waren die im Bestand der Bibliothek des GEI enthaltenen und ggf. neu zu erwerbenden Bildungsmedien. Die Schulbuchsammlung des GEI umfasst rund 183.000 Print- und Online-Medien aus 180 Ländern sowie eine korrespondierende Sammlung von etwa 9.000 Lehrplänen. Die umfangreiche Sammlung wissenschaftlicher Forschungsliteratur ergänzt den Bestand an Bildungsmedien. Schulbücher aus Belarus, Russland und Ukraine sind bereits im Bestand der Bibliothek. Zusätzlich wurden zum Beginn des Schuljahres 2022/23 – soweit verfügbar – neu erscheinende Schulbücher erworben, die ggf. die aktuellen Entwicklungen bereits aufgreifen. Ebenfalls wurde eine Sichtung ergänzender Bildungsmedien (grauer Literatur und digitaler Materialien) einbezogen, um aktuellste Narrative einbeziehen zu können.

    Um die Vergleichbarkeit der landesspezifischen Analysen gewährleisten zu können, erstellte die Arbeitsgruppe ein gemeinsames Analyseraster mit besonders relevanten Themen und Begriffen. Methodische Grundlage war eine qualitative Inhaltsanalyse, die, soweit möglich und sinnvoll, durch quantitative Analysen unterstützt wurde. Als Analysekategorien wurden verwendet: a) thematische Rahmung, b) didaktische Aufbereitung und Methodik, c) zitierte Quellen- und Dokumenttypen, d) begriffliche Rahmung, e) erwähnte bzw. abgebildete Personen, f) sprachliche Muster in der Darstellung.


  • Ergebnisse

    Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden als Schulbuchanalysen und als Dokumentation erinnerungspolitischer Kontroversen in einem englischsprachigen Zeitschriftenartikel sowie in einer Expertise veröffentlicht werden.

    Darüber hinaus wird das Projekt die Grundlage für forschungsbasierte Impulse für die Bildungspolitik und Bildungspraxis liefern. So sind an die politischen Akteur*innen gerichtete Policy Briefs zu Schulbuchinhalten ebenso geplant wie Fortbildungen für Lehrkräfte und Bildungsmaterialien, die folgende Ergebnisse anstreben:

    1. Aufklärung der deutschen und ukrainischen Öffentlichkeiten sowie der Gegenöffentlichkeiten in Russland und Belarus über in Schulbüchern verbreitete Narrative auf Grundlage einer systematischen Analyse;

    2. Sensibilisierung der deutschen Öffentlichkeit, Bildungspolitik und -praxis für Stereotype und Vereinfachungen in deutschen Schulbüchern im Hinblick auf die Darstellung Osteuropas und der Ukraine,

    3. Handlungsempfehlungen für die Bildungspolitik und Bildungsmedienverlage in Deutschland im Hinblick auf die Darstellung ukrainischer Geschichte und russischer Politik, insbesondere in Bezug auf geflohene ukrainische Schüler*innen im deutschen Bildungssystem.

    Veröffentlicht werden können die im Projekt entstehenden didaktischen Impulse auf der deutschsprachigen Lehr – und Lernmittelplattform zwischentoene.info sowie der insgesamt auf sieben Sprachen digitale Bildungsmaterialien zur Verfügung stellenden Plattform hi-storylessons.eu/de. Die auf Basis der Forschungsergebnisse entwickelten Lehrkräftefortbildungen werden im The Basement, dem Digital Lab des Leibniz-Instituts für Bildungsmedien, durchgeführt.


Projektteam

  • Riem Spielhaus | Projektleitung
  • Yulia Ostropalchenko | Stipendiatin
  • Yuri Shapoval | Stipendiat
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