Erinnerungskulturen im Zeichen von Globalisierung

Die Untersuchung von Erinnerungskulturen ist traditionell ein Schwerpunktthema in der Schulbuchforschung. Insbesondere Geschichts- und Geographiebücher sind schon oft als Medien analysiert worden, die einen relevanten Beitrag zur Konstituierung, Repräsentation und Vermittlung des kulturellen Gedächtnisses leisten. Bislang bewegten sich diese Forschungen allerdings vornehmlich im nationalstaatlichen Referenzrahmen. Die in diesem Themenfeld angesiedelten Projekte des Arbeitsbereichs Globalisierung richten ihr Augenmerk hingegen explizit auf die Rekonfiguration von Erinnerungskulturen im Zeichen der Globalisierung. Dabei gehen sie davon aus, dass die Beschäftigung mit dem Zusammenhang zwischen Globalisierung und Erinnerungskulturen aus zwei Gründen ein relevantes Forschungsfeld darstellt.

  • Ziele

    Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Erinnerungskulturen und Globalisierung kombinieren die diesem Themenfeld zugeordneten Projekte künftig ein breites Spektrum von Fragestellungen:

    Die Übersetzung von über Bildungsmedien transportierten erinnerungskulturellen Narrativen in die schulische Praxis

    • Bildungsmedien erheben zwar den Anspruch zu definieren, was in einer Gesellschaft als relevante Erinnerung gelten soll. Um wirksam zu werden, müssen diese erinnerungskulturellen Setzungen aber erst in schulische Praxis übersetzt werden. Dieser Übersetzungsprozess lässt sowohl Lehrern als auch Schülern immer einen gewissen Spielraum für kreative Weisen der Aneignung. Die Frage, wie dieser Spielraum im Zuge der Aneignung von über Schulbüchern vermittelten Erinnerungsnarrativen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten genutzt wird, wird damit zu einem interessanten Forschungsgegenstand. Der Arbeitsbereich will dies mit dem methodischen Instrumentarium der empirischen Sozialforschung sowohl aus der Perspektive von Lehrern als auch aus der Sicht von Schülern untersuchen. Zurzeit vergleicht ein Forschungsprojekt zu kulturellen Deutungsmuster in Georgien, Kirgisien und Litauen die biographischen Erinnerungsnarrative von Geschichtslehrern an den Sozialismus mit Repräsentationen des Sozialismus in den Schulbüchern dieser Länder. Ein weiteres Projekt, das sich  in der Beantragungsphase befindet, untersucht im Rahmen einer empirischen Studie u.a. wie Schüler Darstellungen zu den erinnerungskulturellen Wendepunkten 1945, 1989 und „Nine-Eleven“ in Schulbüchern und im Internet rezipieren und in ihre eigenen Lebenswelten einordnen. Mit Blick auf die persönlichen und sozialen Kontexte der Schüler sollen aus dem empirischen Material anhand der Hauptquellen von Unterschieden in der Medienrezeption zunächst verschiedene Typen von Mediennutzern konstruiert werden, um dann experimentell zu untersuchen, wie diese Typen mit den für das Schulbuch bzw. für das Internet jeweils spezifischen Formen der Aufbereitung von Wissen umgehen. Hauptziel ist es zu prüfen, ob differentielle Wechselwirkungseffekte zwischen Rezeptionstypen und Bildungsmedien beim Kompetenzerwerb feststellbar sind und ob bestimmte Typen eher vom Lernen mit einem der beiden Medien profitieren.

    Die Analyse von interdiskursiven Verknüpfungen zwischen Schulbuchdiskursen und Diskursen in anderen Bildungsmedien

    • Die rasante Vervielfältigung der diskursiven und medialen Arenen, in denen heute um Deutungshoheit und Definitionsmacht gerungen wird, verändert unweigerlich den gesellschaftlichen Ort und die Funktion von Schulbuchwissen. Schulbücher sind ein Bildungsmedium neben vielen anderen. Die Repräsentationen der Wirklichkeit, die Schulbücher liefern, müssen sich in der Auseinandersetzung mit möglicherweise rivalisierenden Deutungsangeboten behaupten. Auf diese Herausforderung reagiert der Arbeitsbereich durch die Konzipierung von Projekten, welche die Analyse von Schulbüchern in die Auseinandersetzung mit Prozessen der Wissensproduktion in anderen gesellschaftlichen und diskursiven Arenen einbetten, z.B. Internet, Museen, Literatur, Film und Fernsehen. Zurzeit wird ein Projekt beantragt, das mit Blick auf den Balkan und das Baltikum Repräsentationen der sozialistischen Vergangenheit in Schulbüchern in literarischen Diskursen vergleicht. Ausgangspunkt ist hier die Überlegung, dass Schulbuchnarrative deutlich die Signatur der von staatlichen Eliten artikulierten erinnerungskulturellen Präferenzen tragen, während sich im Medium der Literatur die Vielfalt zivilgesellschaftlicher Positionen spiegelt. Der regionale Fokus auf das Baltikum und den Balkan ergibt sich aus mehreren Beobachtungen. In beiden Regionen waren und sind erinnerungskulturelle Aushandlungsprozesse besonders intensiv. Gleichzeitig unterscheiden sich beide Regionen in Bezug auf die Umstände, die zur Errichtung des Sozialismus und zum Untergang der Eigenstaatlichkeit geführt haben. Zudem zeichnete sich der sozialistische Legitimationsdiskurs in beiden Regionen durch unterschiedlich akzentuierte Strategien des Rekurses auf Versatzstücke nationalistischer Argumentationsmuster aus.

    When Concepts travel – Bildungsmedien als Resonanzkörper transnationaler Diskurse

    • Auch auf dem Feld der Bildungspolitik ist ein schleichender Prozess der Erosion nationalstaatlicher Souveränität und ein bewusster Rückzug des Staates zu beobachten. Künftige Forschungsprojekte werden sich deshalb künftig auch mit der Frage beschäftigen, ob das, was in staatlichen Schulen wie unterrichtet wird, auch auf der supra- und transnationalen Ebene (mit-)entschieden wird. Es sind mindestens zwei Mechanismen, die hier im Sinne einer Relativierung nationalstaatlicher Entscheidungskompetenz wirksam werden können. Auf der formalen Ebene beanspruchen supranationale Institutionen wie die EU und die OSZE immer mehr Mitspracherechte bei der Entscheidung bildungspolitischer Fragen. Auf der informellen Ebene unterliegen nationalstaatlich legitimierte Entscheidungsträger immer stärken den Zwängen und Wirkungen der im transnationalen Raum geführten Diskurse. Die Debatten um eine Universalisierung des Gedächtnisses an den Holocaust markieren hier nur ein besonders augenfälliges Beispiel. Beiden Mechanismen der zunehmenden Verflechtung und Interdependenz von nationalen und transnationalen Diskursen wollen zukünftige Projekte des Arbeitsbereiches Rechnung getragen. Geplant sind hier zwei Arten von Projekten. Ein Projekt soll in Auseinandersetzung mit ausgewählten west- und osteuropäischen Gesellschaften untersuchen, ob und wie sich die Aktivitäten der International Taskforce for Holocaust Education auf die Inhalte von Bildungsmedien und deren Übersetzung in die schulische Praxis auswirken. Ein weiteres Projekt soll die bildungspolitischen Aktivitäten der UNESCO und des Agha Khan Network in Kirgistan und Kazachstan untersuchen. Der Fokus wird dabei auf der lokalen Aneignung und Übersetzung der von beiden transnationalen Akteuren vertretenen Konzepte zu civic education liegen. In beiden Fällen geht es also darum, konkrete institutionelle Stützpfeiler von globalen Relevanzräumen in den Blick zu nehmen, um dann danach zu fragen, wie und mit welchen Folgen die von diesen Institutionen transportierten Konzepte in unterschiedlich strukturierten lokalen Arenen angeeignet werden. Ein anderer Typus von Projekten wird sich hingegen globalen Selektionshorizonten als potentiellen Trägern und Promotoren bei der Entstehung globaler Selektionsräume zu wenden. Konkret soll untersucht werden, wie Bildungsmedien in ost- und westeuropäischen sowie in nicht-europäischen Gesellschaften die Wende von 1989 als globales Ereignis repräsentieren. Gezielt soll danach gefragt werden, ob und ggf. welche Narrative zwischen verschiedenen lokalen Kommunikationsräumen wandern.

  • Vorgehensweise
    • Erstens beobachten wir unter den Bedingungen von Globalisierung auch eine Zunahme von Prozessen der Fragmentierung. Globalisierung hat nicht zufällig den Zusammenbruch von multiethnischen Staaten beschleunigt. Insbesondere im post-sowjetischen Raum und auf dem post-sozialistischen Balkan haben diese Prozesse zur Konstituierung bzw. Rekonstituierung von Nationalstaaten geführt. In Afrika und in manchen Regionen Asiens hat Globalisierung zu einer Verschärfung von Fragmentierungsprozessen und Konflikten beigetragen. Diese Staaten stehen heute auch vor der Aufgabe, in ihren Gesellschaften einen tragfähigen gesellschaftlichen Konsens über die Deutung ihrer Vergangenheit herzustellen und u.a. über Bildungsmedien an nachwachsende Generationen zu vermitteln. Gleichzeitig finden die damit verbundenen erinnerungskulturellen Aushandlungsprozesse von Anfang an vor dem Hintergrund bereits bestehender globaler Relevanzräume statt. Die Konstruktion nationaler Meisternarrative wird in postsowjetischen und postsozialistischen Ländern nicht nur von einer Vielzahl von transnationalen Akteuren beobachtet und auf ihre Passfähigkeit im Hinblick auf Projekte der Erfindung supranationaler Identitäten beurteilt. Diese neuen nationalen Meistererzählungen müssen sich vielmehr auch daran messen lassen, ob und wie sie die von ihnen konstituierten nationalen Kollektive befähigen, sich den Herausforderungen einer globalisierten Gegenwart zu stellen.
       
    • Zweitens haben sich die Probleme, vor denen Projekte der Konstruktion kollektiver Identität durch die Prägung kultureller Erinnerung an allen Orten der Welt stehen, im Zeichen von Globalisierung enorm verschärft. Staatliche Eliten haben immer schon bestimmte Erinnerungsnarrative privilegiert. Gleichzeitig ist es ihnen aber nie gelungen, den erinnerungskulturellen Narrativen, die sie über Bildungsmedien, Museen und Denkmäler institutionalisiert haben, eine unangefochtene Hegemonie zu sichern. Immer schon mussten staatliche Deutungsangebote der Vergangenheit mit den alternativen Erinnerungsnarrativen unterschiedlicher sozialer Gruppen koexistieren bzw. konkurrieren. Der Begriff der Erinnerungskulturen thematisiert genau dieses Nebeneinander von z.T. sehr widersprüchlichen und vielfach gebrochenen Repräsentationen der Vergangenheit. Er lenkt das Augenmerk auf die Vielzahl von polyphonen Stimmen, die in die Aushandlungsprozesse darüber eingehen, was jeweils als relevante Erinnerung zu gelten hat und welche Bedeutung diesen Erinnerungen jeweils zugeschrieben wird. Unter den Bedingungen von Globalisierung haben solche Aushandlungsprozesse zusätzlich an Dynamik gewonnen. Das hat zum einen mit der Ausweitung von Interdependenzgeflechten zu tun, in die Individuen eingebunden sind. Zum anderen ist dies eine Folge der Vervielfältigung von sich gegenseitig beobachtenden Zentren der Wissensproduktion. Beide Wirkkräfte haben Einfluss auf Erinnerungskulturen. Wenn heute auch in den abgelegenen Regionen dieser Welt viele Familien einen Angehörigen haben, den es als Migrant in eine der globalen Metropolen verschlagen hat, dann verändert das unweigerlich auch die Sicht der Familie auf die Welt und beeinflusst damit auch ihre Identitätsentwürfe. Dasselbe gilt für die medial vermittelte Zugänglichkeit zu den an vielen Orten der Welt produzierten Wissensbeständen. Beides führt dazu, dass in die Aushandlungsprozesse um Erinnerung und Identität auch und gerade im Rahmen des Nationalstaates vielfältige Perspektiven eingehen.

  • Ergebnisse

Projektteam

  • Weitere Projektinformationen

    Projektlaufzeit

    • 2008 - 2013

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