Krisensemantiken Europas und das europäische Subjekt in Schulbüchern im 20. Jahrhundert

Der Begriff der Krise ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem omnipräsenten und schillernden Topos gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen geworden. Dies gilt in besonderer Weise für Selbstbeschreibungen und Repräsentationen Europas, insofern diese durch vielfältige und sich historisch wandelnde Krisensemantiken geprägt waren und sind. Damit korrespondiert einerseits die gegenwärtig vielfach wiederholte Beobachtung, dass Europa und seine moderne Geschichte zumeist im semantischen Register von Krisen erzählt wird. Dies spiegelt sich auch in den nicht-westlichen Repräsentationen Europas und des „Westens“ wider, die häufig die Schwächung, die Delegitimierung oder gar das Ende der europäischen oder westlichen (kulturellen) Hegemonie in der Welt artikulieren. Andererseits verbindet sich mit dem Rekurs auf Europa im Laufe des 20. Jahrhunderts sowie im Kontext der beiden Weltkriege ein zivilisatorisches und politisches Projekt, das darauf abzielt, nationale Grenzen und Nationalismen in Europa zu überwinden und darüber hinaus potentiell als Modell innerhalb einer entstehenden neuen Weltordnung zu dienen. Doch auch die Prozesse der institutionellen Integration Europas waren seit ihren Anfängen immer wieder von Krisennarrationen geprägt. Europa figuriert mithin als eine überaus ambivalente Referenz, die in vielfältiger Weise in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Denkfiguren der „Krise“, mit Krisendiagnosen und -szenarien diskursiv artikuliert sowie damit zugleich wiederholt semantisch transformiert wurde.

  • Ziele

    Das Projekt untersucht vor diesem Hintergrund anhand von deutschen und französischen Schulbüchern der historisch-politischen Bildung, inwiefern Europa im 20. Jahrhundert in verschiedenen diskursiven Konstellationen ausgehend vom semantisch polyvalenten und omnipräsenten Deutungsmuster der „Krise“ thematisiert, imaginiert und adressiert worden ist. Damit verbunden fragt das Projekt danach, wie in diesem Zusammenhang die Figur eines europäischen Subjekts jeweils im nationalstaatlichen Rahmen oder als darüber hinausweisende Projektion sowie in der diskursiven Auseinandersetzung mit einem jeweiligen „außereuropäischen“ Gegenüber konstituiert worden ist.


  • Vorgehensweise

    Das Projekt untersucht aus diskursanalytischer Perspektive die diskursiven Konstellationen, Denkfiguren und semantischen Topoi, in denen Europa und korrespondierende Subjektpositionen im Rekurs auf Krisen repräsentiert, artikuliert, imaginiert und entworfen werden. Dazu werden erstens die Themen identifiziert, innerhalb derer Europa im Kontext von Krisen behandelt wird, und anhand ihres jeweils spezifischen Krisenbezugs differenziert. Daran anschließend werden zweitens die verschiedenen semantischen Topoi von „Krise“ herausgearbeitet und gewichtet, die mit Repräsentationen Europas einhergehen. Drittens wird untersucht, welche Formen von agency sowie (potentiellen) Entscheidungs- und Handlungsoptionen in diesen Darstellungen aufgezeigt oder impliziert werden. Schließlich erfolgt viertens eine vertiefte Analyse der Narrative historischen Wandels, in denen Europa thematisch mit „Krisen“, ihrer Überwindung oder auch ihrer Abwesenheit verknüpft wird.


  • Ergebnisse

      Publikationen

      • Krise und Kritik. Entstehung und Wandel der Europabildung in Schulbüchern seit den 1950er-Jahren, in: Eva Matthes/Christine Ott/Sylvia Schütze/Dieter Wrobel (Hg.): Kontinuität und Wandel von Wissensbeständen in Bildungsmedien, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2024, S. 193–202.
      • Otto, M., Telus, M. (2023): Constructions of European Identity, Crisis Stereotypes and the Discursive Embedding of the Subject in Textbooks Assignments. In: Gorbahn, K.; Hallsteinsdóttir, E.; Kilian, J. et al (Hrsg.): Exploring Interconnectedness: Constructions of Europe and National Identities in Educational Media. Palgrave Studies in Educational Media.
      • Otto, M.; Sammler, S.; Spielhaus R. (2020): „Krisen“ als Seismografen gesellschaftlichen Wandels und Gegenstand schulischer Bildungsmedien. In: Bösch F.; Deitelhoff N.; Kroll S. (Hrsg.): Handbuch Krisenforschung. Wiesbaden: Springer Verlag, S. 93–108.

      Vorträge

      • Krise und Kritik – Entstehung und Wandel der Europabildung in Schulbüchern seit den 1950er-Jahren, 07.10.22 auf der IGSBi-Jahrestagung "Kontinuität und Wandel von Wissensbeständen in Bildungsmedienden" an der Universität Würzburg.
      • Europabildung im Zeichen von „Krisen“ – Europa als historisch-politisches Argument und die Anrufung europäischer Subjekte, 28.11.19 auf der Konferenz „Europabildung“, Tagungsreihe sprache-macht-gesellschaft an der Universität Wien.

    Projektkontakt

    • Weitere Projektinformationen

      Abteilung

      Projektlaufzeit

      • Seit 2019

      Projektförderung

      • Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut

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